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Die Waldenser
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ein Leben voller Prüfungen und Schwierigkeiten, vielleicht der Mär-
tyrertod. Sie wurden von Kindheit an dazu erzogen, Schwierigkeiten
zu ertragen, etwaige Befehle zu befolgen und doch selbstständig zu
denken und zu handeln. Schon früh wurden sie gelehrt, Verantwor-
tungen zu übernehmen, ihre Worte genau zu wägen und die Klugheit
des Schweigens zu verstehen. Ein unbedachtes Wort, das in Gegen-
wart von Feinden fiel, konnte nicht nur das Leben des Sprechers,
sondern auch das von Hunderten seiner Brüder gefährden; denn
gleich den Wölfen, die ihre Beute jagen, verfolgten die Feinde der
Wahrheit jene, die es wagten, Glaubensfreiheit zu beanspruchen.
Die Waldenser hatten ihre weltliche Wohlfahrt um der Wahr-
heit willen geopfert und arbeiteten mühselig und beharrlich für ihr
tägliches Brot. Jeder Fleck bestellbaren Bodens in den Gebirgen
wurde sorgfältig ausgenutzt; die Täler und die wenigen fruchtbaren
Abhänge wurden urbar gemacht. Sparsamkeit und strenge Selbst-
verleugnung bildeten einen Teil der Erziehung, die die Kinder als
einziges Vermächtnis erhielten. Man lehrte sie, daß Gott das Leben
zu einer Schule bestimmt habe und daß ihre Bedürfnisse nur durch
persönliche Arbeit, durch Vorsorge, Mühe und Glauben gedeckt
werden könnten. Wohl war diese Methode mühevoll und beschwer-
lich, aber es war heilsam und gerade das, was allen Menschen in
ihrem gefallenen Zustand Not tut; es war die Schule, die Gott für
ihre Erziehung und Entwicklung vorgesehen hatte. Während die
Jugend an Mühsal und Ungemach gewöhnt wurde, vernachlässigte
man nicht die Bildung des Verstandes. Man lehrte, daß alle Kräfte
Gott gehören und daß sie für seinen Dienst vervollkommnet und
entfaltet werden müssen.
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Die Gemeinden der Waldenser glichen in ihrer Reinheit und
Schlichtheit der Gemeinde zu den Zeiten der Apostel. Indem sie
die Oberherrschaft des Papstes und seiner Würdenträger verwarfen,
hielten sie die Heilige Schrift für die höchste und einzig unfehlbare
Autorität. Ihre Prediger folgten dem Beispiel ihres Meisters, der
nicht gekommen war, „daß er sich dienen lasse, sondern, daß er die-
ne“. Sie weideten die Herde Gottes, indem sie sie auf die grüne Aue
und zu dem frischen Wasser seines heiligen Wortes führten. Weit
abgelegen von den Denkmälern weltlicher Pracht und Ehre versam-
melte sich das Volk nicht in stattlichen Kirchen oder großartigen
Kathedralen, sondern im Schatten der Gebirge, in den Alpentälern