Seite 300 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
zu sein allein durch ihre eigenen Bemühungen im Befolgen des
Gesetzes. Doch ihre Werke hatten die Gerechtigkeit vom Glauben
getrennt. Während sie die rituellen Handlungen peinlich genau be-
achteten, führten sie ein unmoralisches und verderbtes Leben. Ihre
sogenannte Gerechtigkeit konnte ihnen niemals den Eingang in das
Himmelreich verbürgen.
Die größte Täuschung der Menschenherzen zur Zeit Christi war
die Ansicht, daß die Gerechtigkeit in der bloßen Zustimmung zur
Wahrheit bestände. Es hat sich in allen menschlichen Erfahrungen
erwiesen, daß eine theoretische Kenntnis der Wahrheit nicht genügt,
um Seelen zu retten; sie allein bringt keine Früchte der Gerechtigkeit
hervor. Eifernde Hochachtung vor der sogenannten theologischen
Wahrheit wird oft von einem Haß gegen die unverfälschte Wahrheit
begleitet. Die dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte sind belastet
mit Berichten über Verbrechen, die von eifernden, blinden Schwär-
mern begangen wurden. Die Pharisäer behaupteten, Kinder Abra-
hams zu sein und das Wort Gottes zu besitzen, und doch bewahrten
diese Vorzüge sie nicht vor Selbstsucht, Boshaftigkeit, Habsucht und
niedrigster Heuchelei. Sie hielten sich für die besten Religionsbe-
kenner der Welt; aber ihre sogenannte Rechtgläubigkeit hinderte sie
nicht, den Herrn der Herrlichkeit zu kreuzigen.
Die gleiche Gefahr besteht noch heute. Viele zählen sich zu
den Christen, nur weil sie ein christliches Bekenntnis ablegten; sie
übertragen jedoch ihr Glaubensbekenntnis nicht in das praktische
Leben. Ihnen fehlen Liebe und Glauben, deshalb haben sie nicht die
Kraft und die Gnade empfangen, die aus der Heiligung in der Wahr-
heit kommen. Die Menschen mögen vorgeben, an die Wahrheit zu
glauben; wenn sie aber durch diese nicht aufrichtig, gütig, geduldig,
langmütig und himmlisch gesinnt werden, wird sie ihnen zum Fluch
und durch ihren Einfluß auch zum Fluch für die Welt.
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Die Gerechtigkeit, die Christus lehrte, ist Übereinstimmung des
Herzens und des Lebens mit dem geoffenbarten Willen Gottes. Sün-
dige Menschen können nur gerecht werden, wenn sie Glauben an
Gott haben und eine lebendige Verbindung mit ihm unterhalten.
Dann wird wahre Gottseligkeit die Gedanken erheben und das Le-
ben adeln, dann werden auch die äußeren Formen der Religion mit
der inneren Reinheit des Christen übereinstimmen. Dann sind auch