Seite 730 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Sie sah ihn beim Verhör im Gerichtshaus; sie sah seine Hände gefes-
selt wie die eines Verbrechers. Sie sah Herodes und seine Soldaten
ihr entsetzliches Werk tun; sie hörte die neiderfüllten, heimtücki-
schen Priester und Obersten ihn hartnäckig anklagen und vernahm
die Worte: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er
sterben.“
Johannes 19,7
. Sie sah auch, wie Pilatus ihn geißeln ließ,
nachdem er erklärt hatte: „Ich finde keine Schuld an ihm.“
Johannes
18,38
. Sie hörte, wie Pilatus das Todesurteil sprach, und sah, wie er
Christus den Mördern übergab. Sie sah das Kreuz auf Golgatha und
die Erde in Finsternis gehüllt, und sie hörte den geheimnisvollen
Schrei: „Es ist vollbracht!“
Johannes 19,30
. Dann schaute sie noch
ein anderes Bild. Sie erkannte Jesus auf einer großen, weißen Wolke
sitzend, während die Erde im Weltraum hin und her taumelte und
seine Mörder vor der Offenbarung seiner Herrlichkeit flohen. Mit
einem Schrei des Entsetzens erwachte sie, und unverzüglich schrieb
sie Pilatus eine Warnungsbotschaft.
Während Pilatus noch überlegte, was er tun solle, drängte sich ein
Bote durch die Menge und übergab ihm das Schreiben seiner Frau,
in dem es hieß: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten;
ich habe heute viel erlitten im Traum seinetwegen.“
Matthäus 27,19
.
Pilatus erbleichte. Einander widerstrebende Empfindungen ver-
wirrten ihn. Doch während er noch entschlußlos zögerte, schürten
die Priester und Obersten noch weiter die Erregung des Volkes. Pila-
tus war gezwungen zu handeln. Da entsann er sich eines Brauches,
der Christi Freilassung gewährleisten könnte. Es war üblich, anläß-
lich des Passahfestes einen Gefangenen, den das Volk sich wählen
durfte, freizulassen. Dieser Brauch war heidnischen Ursprungs und
mit dem Grundsatz der Gerechtigkeit völlig unvereinbar; dennoch
wurde er von den Juden sehr geschätzt.
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In römischem Gewahrsam befand sich zu jener Zeit ein Verbre-
cher namens Barabbas, der zum Tode verurteilt war. Dieser Mann
hatte sich als Messias ausgegeben. Er hatte behauptet, die Vollmacht
zu besitzen, eine andere Ordnung aufzustellen, um die Welt zu ver-
vollkommnen. Unter teuflischem Einfluß beanspruchte er, daß alles,
was er durch Diebstahl und Raub erlangte, ihm gehöre. Mit satani-
scher Hilfe hatte er große Dinge vollbracht; er besaß unter dem Volk
eine große Anhängerschar und hatte auch einen Aufstand gegen die
Römer angezettelt. Unter dem Deckmantel religiöser Begeisterung