Seite 731 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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verbarg sich ein hartherziger, verwegener Schurke, ausgerichtet al-
lein auf Aufruhr und Grausamkeit. Indem Pilatus das Volk vor die
Entscheidung stellte, zwischen diesem Mann und dem unschuldigen
Heiland zu wählen, wollte er sich an das Gerechtigkeitsgefühl des
Volkes wenden. Er hoffte, trotz des Widerstandes der Priester und
Obersten ihr Mitgefühl für Jesus gewinnen zu können. So fragte er
mit besonderem Ernst, als er sich der Menge zuwandte: „Welchen
wollt ihr, daß ich euch losgebe, Barabbas oder Jesus, von dem gesagt
wird, er sei der Christus?“
Matthäus 27,17
.
Die Antwort des Volkes glich dem Brüllen wilder Tiere: „Gib
uns Barabbas los!“
Lukas 23,18
. Immer stärker schwoll das Schreien
an: Barabbas! Barabbas! In der Meinung, das Volk habe seine Frage
nicht verstanden, sagte Pilatus nochmals: „Wollt ihr nun, daß ich
euch der Juden König losgebe?“ Aber sie schrien wieder: „Nicht
diesen, sondern Barabbas!“
Johannes 18,39.40
. Pilatus aber fragte
dagegen: „Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird,
er sei der Christus?“
Matthäus 27,22
. Wiederum schrie die Menge
wie vom Teufel besessen. Tatsächlich befanden sich böse Geister in
menschlicher Gestalt unter den Versammelten. Wie hätte daher eine
andere Antwort als: „Laß ihn kreuzigen!“ (
Matthäus 27,22
) erwartet
werden können!
Pilatus war bestürzt. Daß es so weit kommen würde, hatte er nicht
gedacht. Er schreckte davor zurück, einen unschuldigen Menschen
dem schimpflichsten und grausamsten Tod zu überantworten. Als das
Stimmengewirr nachgelassen hatte, wandte er sich an das Volk und
fragte: „Was hat er denn Übles getan?“
Matthäus 27,23
. Aber Worte
konnten hier keinen Umschwung mehr hervorrufen. Die Menge
verlangte nicht mehr einen Beweis für die Unschuld Christi, sondern
seinen Tod.
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Immer noch versuchte Pilatus den Herrn zu retten und wandte
sich deshalb zum drittenmal an die Menge: „Was hat denn dieser
Übles getan? Ich finde nichts an ihm, was den Tod verdient hätte;
darum will ich ihn züchtigen und losgeben.“
Lukas 23,22
. Aber
die Erwähnung seiner Freilassung erregte das Volk bis zum Wahn-
sinn. Unablässig schrie es: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“
Markus
15,13.14
. Der Aufruhr, den Pilatus durch seine Unentschlossenheit
hervorgerufen hatte, schwoll immer mehr an.