Seite 171 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Jakobs Flucht und Verbannung
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Jakob, der hilfsbereit den Stein vom Brunnen wälzte und die Herden
tränkte. Als er sich als Verwandter zu erkennen gab, wurde er im
Hause Labans willkommen geheißen. Obwohl er allein und ohne
Heiratsgut kam, erkannte man schon nach wenigen Wochen seinen
Fleiß und seine Geschicklichkeit. Deshalb bat man ihn zu bleiben.
Sieben Jahre sollte er Laban um Rahel dienen, so vereinbarten sie.
In alten Zeiten verlangte es der Brauch, daß der Bräutigam vor
Abschluß des Heiratsvertrages dem Schwiegervater eine Geldsum-
me oder deren Gegenwert bezahlte, wie es seinen Verhältnissen
entsprach. Man sah darin eine Vorsichtsmaßnahme im Hinblick auf
die spätere Ehe. Den Vätern erschien es zu unsicher, ihre Töchter
Männern anzuvertrauen, die nicht für den Unterhalt einer Familie
vorgesorgt hatten. Besaßen sie nicht genügend Tatkraft und Ge-
schick, einen Beruf auszuüben oder Vieh und Land zu erwerben,
fürchtete man, sie würden im Leben versagen. Aber es gab auch
Möglichkeiten für solche, die nicht in der Lage waren, für eine Frau
zu bezahlen. Sie arbeiteten für den Vater, dessen Tochter sie liebten.
Die Länge der Dienstzeit wurde nach der Höhe des erforderlichen
Brautpreises bemessen. War der Bewerber in seinem Dienste treu
und erwies er sich auch in anderer Hinsicht als würdig, erhielt er die
Tochter zur Frau. Gewöhnlich gab der Vater ihr auch die erhaltene
Heiratsgabe mit in die Ehe. Im Falle von Rahel und Lea jedoch
hielt Laban die Aussteuer selbstsüchtig zurück. Darauf bezogen sich
seine Töchter auch kurz vor ihrer Abreise aus Mesopotamien, als sie
sagten: „Er hat uns verkauft und unsern Kaufpreis verzehrt.“
1.Mose
31,15
.
Diese uralte Sitte hatte ihr Gutes, wenn sie auch wie im Falle
Labans manchmal mißbraucht wurde. Mußte der Freier erst Dienst
leisten, um die Braut zu gewinnen, verhinderte man damit eine über-
eilte Heirat. Zudem hatte er Gelegenheit, die Echtheit seiner Gefühle
zu prüfen und seine Fähigkeit, eine Familie zu ernähren, unter Be-
weis zu stellen. Weil man heutzutage gerade das Gegenteil tut, erlebt
man oft schlimme Folgen. Recht oft haben junge Menschen vor der
Heirat nicht ausreichend Gelegenheit, sich gegenseitig kennenzu-
lernen und dadurch mit ihren Lebensgewohnheiten und Eigenarten
vertraut zu werden. Und was ihr Alltagsleben betrifft, sind sie sich
tatsächlich noch fremd, wenn sie am Altar das Jawort sprechen. Viele
entdecken zu spät, daß sie nicht zueinander passen, und das Ergebnis
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