Seite 200 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Patriarchen und Propheten
auch nicht weiter über das erlittene Unrecht nach, sondern überwand
seinen Kummer, indem er die Sorgen anderer zu erleichtern suchte.
In dieser Leidensschule bereitete Gott ihn für größere Aufgaben vor,
und Joseph sträubte sich nicht gegen diese notwendige Erziehung.
Im Gefängnis sah er die Folgen von Unterdrückung, Gewalt und
Verbrechen. Daraus lernte er, gerecht, mitfühlend und barmherzig
zu sein, so daß er zubereitet wurde, seine Macht später einmal mit
Weisheit und Einfühlungsvermögen anzuwenden.
Allmählich gewann Joseph das Vertrauen des Gefängnisaufse-
hers. Schließlich übergab man ihm sogar die Betreuung sämtlicher
Gefangener. Wie er diesen Dienst versah, seine Lauterkeit im tägli-
chen Leben, Mitgefühl für sie, die in Kummer und Elend waren —
das alles eröffnete ihm den Weg zum künftigen Erfolg. Das Licht,
das wir auf andere ausstrahlen, fällt auf uns zurück. Jedes freund-
liche, teilnahmsvolle Wort zu Sorgenvollen, jede helfende Tat für
Bedrückte und jede Gabe an Bedürftige wird dem Geber Segen
bringen, wenn es aus aufrichtigem Beweggrunde geschah.
Auch der oberste Bäcker und der oberste Mundschenk des Kö-
nigs waren wegen irgendwelcher Vergehen ins Gefängnis geworfen
worden und kamen unter Josephs Aufsicht. Eines Morgens beobach-
tete er, daß sie sehr bedrückt waren, und erkundigte sich freundlich
nach dem Grund. Er erfuhr, daß sie beide einen seltsamen Traum
gehabt hätten, der sie beunruhigte und dessen Bedeutung sie gern
wüßten. „Auslegen gehört Gott zu“, erwiderte Joseph, „doch erzählt
mir‘s.“
1.Mose 40,8
. Nachdem jeder berichtet hatte, sagte er ihnen
die Deutung. In drei Tagen sollte der Mundschenk wieder in sein
Amt eingesetzt werden und Pharao den Becher reichen wie frü-
her. Aber der oberste Bäcker würde auf des Königs Befehl getötet
werden. In beiden Fällen trat ein, was Joseph vorausgesagt hatte.
Der Mundschenk versicherte Joseph, er sei ihm für die ermuti-
gende Auslegung seines Traumes und für die zahlreichen freundli-
chen Aufmerksamkeiten sehr dankbar. Als Gegenleistung erbat sich
Joseph, er möge seinen Fall vor den König bringen. Dabei wies er
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in ergreifender Art und Weise auf die eigene ungerechte Gefangen-
schaft hin: „Gedenke meiner“, sagte er, „wenn dir‘s wohlgeht, und
tu Barmherzigkeit an mir, daß du dem Pharao von mir sagst und
mich so aus diesem Hause bringst. Denn ich bin aus dem Lande der
Hebräer heimlich gestohlen worden; und auch hier hab ich nichts ge-