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Auf den Spuren des großen Arztes
verletzt zu haben. Sie stießen sie in die Nähe Jesu und sagten in
heuchlerischer Ehrerbietung: „Meister, diese Frau ist auf frischer
Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz
geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“
Johannes 8,4.5
.
Ihr vorgetäuschter Respekt sollte die eigentliche Absicht ver-
schleiern, ihn so oder so in die Falle zu locken. Würde Jesus die
Frau freisprechen, könnte man ihn der Verachtung des mosaischen
Gesetzes beschuldigen. Würde er sie dagegen des Todes schuldig
erklären, dann könnte man ihn bei den Römern verklagen, weil er
sich eine Autorität anmaßte, die nur der Besatzungsmacht zustand.
Jesus blickte auf die Menschengruppe, auf die zitternde Frau in
ihrer Scham und in die harten Gesichter der „Ehrenmänner“, denen
jegliches Mitleid fehlte. Diese peinliche Inszenierung erregte seinen
Widerwillen. Ohne erkennen zu lassen, ob er die Frage überhaupt
gehört hatte, bückte er sich, sah auf den Boden und fing an, in dessen
Staub zu schreiben.
Ungeduldig über sein scheinbares Zögern oder seine Gleichgül-
tigkeit, rückten die Ankläger noch näher heran, um seine Aufmerk-
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samkeit für ihren „Rechtsfall“ zu erzwingen. Als sie aber genauer
hinschauten, was Jesus da auf den Boden schrieb, wurden sie ganz
still. Denn dort waren die geheimen Sünden ihres eigenen Lebens
zu lesen.
Jesus erhob sich, richtete seinen Blick auf die Ankläger und
sagte: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein
auf sie.“
Johannes 8,7
. Dann bückte er sich erneut und schrieb weiter
in den Staub.
Somit hatte er das mosaische Gesetz nicht beiseite gesetzt und
sich andererseits nicht die Autorität Roms angemaßt; dennoch waren
die Angreifer geschlagen. Denn nun, nachdem ihre Masken vorge-
täuschter Heiligkeit heruntergerissen waren, standen sie schuldbela-
den und verurteilt in der Gegenwart göttlicher Reinheit. Vor Angst
zitternd, daß die geheimen Sünden ihres Lebens einer breiten Öf-
fentlichkeit bekannt werden könnten, stahlen sie sich mit gesenkten
Köpfen und niedergeschlagenen Augen davon und ließen ihr Opfer
beim Heiland zurück, der Mitleid mit ihr hatte.
Jesus stand nun wieder auf, sah die Frau an und fragte: „Wo sind
sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand,