Seite 106 - Der gro

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Der große Kampf
fühlte, ihr ungehorsam zu sein? Gehorchen hieß für ihn sündigen;
aber warum sollte der Gehorsam gegen eine unfehlbare Kirche zu
solchen Folgen führen? Dies war eine Frage, die er nicht beantwor-
ten konnte; es war der Zweifel, der ihn von Stunde zu Stunde quälte.
Die größte Annäherung an eine Lösung, die er zu machen vermoch-
te, setzte die Verhältnisse gleich mit denen, die in den Tagen des
Heilandes herrschten, daß die Priester der Kirche gottlos geworden
waren und sich ihrer rechtmäßigen Autorität zu unrechtmäßigen
Zwecken bedienten. Dies veranlaßte ihn, sich selbst den Grundsatz
zur Richtschnur zu machen und ihn andern als den ihrigen einzu-
schärfen, daß die Lehren der Heiligen Schrift durch das Verständnis
unser Gewissen beherrschen sollen; in andern Worten, daß Gott, der
in der Heiligen Schrift spricht und nicht in der Kirche, die durch die
Priester redet, der eine unfehlbare Führer sei.
Als sich die Erregung in Prag nach einiger Zeit legte, kehrte Hus
zu seiner Betlehemskapelle zurück, um mit größerem Eifer und Mut
die Predigt des Wortes Gottes fortzusetzen. Seine Feinde waren tätig
und mächtig, aber die Königin und viele der Adligen galten als seine
Freunde, und große Teile des Volkes hielten zu ihm. Sie verglichen
seine reinen und erhebenden Lehren und sein heiliges Leben mit den
entwürdigenden Glaubenssätzen, die die Römlinge predigten, und
mit dem Geiz und der Schwelgerei, die jene trieben, und rechneten
es sich zur Ehre an, auf seiner Seite zu stehen.
Bis dahin hatte Hus in seiner Arbeit allein gestanden, nun aber
verband sich mit ihm in seiner reformatorischen Aufgabe Hiernoy-
mus, der während seines Aufenthaltes in England die Lehren Wiklifs
angenommen hatte. Die beiden wirkten von da an in ihrem Leben
Hand in Hand und sollten auch im Tode nicht getrennt werden.
Hieronymus besaß glänzende Anlagen, große Beredsamkeit und
hohe Bildung — Gaben, welche die öffentliche Gunst fesseln; doch
in den Eigenschaften, die die wahre Charakterstärke ausmachen, war
Hus der größere. Dessen besonnenes Urteil zügelte den ungestümen
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Geist des Hieronymus, und da dieser in christlicher Demut Hus‘
Bedeutung erkannte, fügte er sich seinen Ratschlägen. Durch ihre
gemeinsame Arbeit breitete sich die Reformbewegung schneller aus.
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Wylie, „History of Protestantism“, 3.Buch, Kapitel 2