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Luthers Trennung von Rom
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Der Kurfürst wußte bis dahin nur wenig von den reformierten
Lehren; aber die Aufrichtigkeit, die Kraft und die Klarheit der Worte
Luthers machten einen tiefen Eindruck auf ihn, und er beschloß,
so lange als des Reformators Beschützer aufzutreten, bis dieser des
Irrtums überführt würde. Als Erwiderung auf die Forderung des
päpstlichen Gesandten schrieb er: „Weil der Doktor Martinus vor
euch zu Augsburg erschienen ist, so könnt ihr zufrieden sein. Wir
haben nicht erwartet, daß ihr ihn, ohne ihn widerlegt zu haben, zum
Widerruf zwingen wollt. Kein Gelehrter in unseren Fürstenhäusern
hat behauptet, daß die Lehre Martins gottlos, unchristlich und ketze-
risch sei.
Der Fürst weigerte sich, Luther nach Rom zu schicken
oder ihn aus seinem Lande zu vertreiben.
Der Kurfürst sah, daß die sittlichen Schranken der Gesellschaft
allgemein zusammenbrachen. Eine große Reform war nötig gewor-
den. Die verwickelten und kostspieligen polizeilichen und juristi-
schen Einrichtungen wären unnötig, wenn die Menschen Gottes
Gebote und die Vorschriften eines erleuchteten Gewissens aner-
kennten und ihnen Gehorsam leisteten. Er sah, daß Luther darauf
hinarbeitete, dieses Ziel zu erreichen, und er freute sich heimlich,
daß ein besserer Einfluß in der Kirche fühlbar wurde.
Er sah auch, daß Luther als Professor an der Universität unge-
mein erfolgreich war. Nur ein Jahr war verstrichen, seit der Re-
formator seine Thesen an die Schloßkirche geschlagen hatte; die
Zahl der Pilger, welche die Kirche aus Anlaß des Allerheiligenfestes
besuchten, war geringer geworden. Rom war seiner Anbeter und
Opfergaben beraubt worden; aber ihr Platz wurde von einer andern
Gruppe eingenommen, die jetzt nach Wittenberg kam — es waren
nicht etwa Pilger, die hier Reliquien verehren wollten, sondern Stu-
denten, die die Hörsäle füllten. Luthers Schriften hatten überall ein
neues Verlangen nach der Heiligen Schrift wachgerufen, und nicht
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nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern auch aus andern Ländern
strömten der Universität Studenten zu. Jünglinge, die zum erstenmal
der Stadt Wittenberg ansichtig wurden, „erhoben die Hände gen
Himmel, lobten Gott, daß er wie einst in Zion das Licht der Wahrheit
leuchten lasse und es in die fernsten Lande schicke.
1
Luther, EA, op. lat. XXXIII 409f.; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“,
4.Buch, 10.Abschnitt
1
(D‘Aubigné, ebd.