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Fortschritt der Reformation in Deutschland
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will willig und ohne Zwang angezogen werden. Nehmt ein Exempel
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an mir. Ich bin dem Ablaß und allen Papisten entgegen gewesen,
aber mit keiner Gewalt. Ich hab allein Gottes Wort getrieben, gepre-
digt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich
geschlafen habe ... also viel getan, daß das Papsttum also schwach
geworden ist, daß ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel ab-
gebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort Gottes hat es alles
gehandelt und ausgericht. Wenn ich hätte wollen mit Ungemach
fahren, ich wollte Deutschland in ein groß Blutvergießen gebracht
haben. Aber was wär es? Ein Verderbnis an Leib und Seele. Ich habe
nichts gemacht, ich habe das Wort Gottes lassen handeln.
Tag um Tag, eine Woche lang, predigte Luther der aufmerksam
lauschenden Menge. Das Wort Gottes brach den Bann der fanati-
schen Erregung. Die Macht des Evangeliums brachte das irregelei-
tete Volk auf den Weg der Wahrheit zurück. -
Luther zeigte kein Verlangen, den Schwärmern zu begegnen,
deren Verhalten so viel Unheil angerichtet hatte. Er kannte sie als
Menschen mit unzuverlässigem Urteil und unbeherrschten Leiden-
schaften, die zwar behaupteten, vom Himmel besonders erleuchtet
zu sein, aber weder geringsten Widerspruch noch wohlwollenden
Tadel oder Rat vertrugen. Sie maßten sich höchste Autorität an und
verlangten von allen, als solche ohne jeden Widerspruch anerkannt
zu werden. Als sie aber auf eine Unterredung drangen, willigte er ein.
Bei dieser Gelegenheit entlarvte er ihre Anmaßungen so gründlich,
daß die Betrüger Wittenberg sofort wieder verließen.
Der Schwärmerei war eine Zeitlang Einhalt geboten; einige Jahre
später brach sie jedoch heftiger und schrecklicher wieder hervor. Lu-
ther sagte über die Führer dieser Bewegung: „Die Heilige Schrift war
für sie nichts als ein toter Buchstabe, und alle schrien: Geist! Geist!
Aber wahrlich, ich gehe nicht mit ihnen, wohin ihr Geist sie führt.
Der barmherzige Gott behüte mich ja vor der christlichen Kirche,
darin lauter Heilige sind. Ich will da bleiben, wo es Schwache, Nied-
rige, Kranke gibt, welche ihre Sünde kennen und empfinden, welche
unablässig nach Gott seufzen und schreien aus Herzensgrund, um
seinen Trost und Beistand zu erlangen.“
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D‘Aubigné, ebd., 9.Buch 8.Abschnitt, 53f.