Seite 226 - Der gro

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Der große Kampf
Calvin einer der tüchtigsten und geehrtesten Verteidiger der Kirche
werden würde. Aber ein Strahl göttlichen Lichtes durchdrang sogar
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die Mauern der Schulweisheit und des Aberglaubens, von denen
Clavin umgeben war. Mit Schaudern hörte er von den neuen Lehren,
ohne den geringsten Zweifel zu hegen, daß die Ketzer das Feuer,
dem sie übergeben wurden, vollständig verdienten. Ganz unwissent-
lich jedoch kam er mit der Ketzerei unmittelbar in Berührung und
wurde gezwungen, die Macht der päpstlichen Theologie zu prüfen,
um die protestantischen Lehren zu bekämpfen.
Ein Vetter Calvins, der sich der Reformation angeschlossen hat-
te, befand sich in Paris. Die beiden Verwandten trafen sich oft und
besprachen miteinander die Angelegenheiten, welche die Christen-
heit beunruhigten. „Es gibt nur zwei Religionen in der Welt“, sagte
Olivetan, der Protestant, „die eine ist die, welche die Menschen er-
funden haben und nach der die Menschen sich durch Zeremonien
und gute Werke retten; die andere ist die Religion, welche in der
Bibel offenbart ist und die lehrt, daß die Menschen nur durch die
freie Gnade Gottes selig werden können.“
„Weg mit euren neuen Lehren!“ rief Calvin. „Bildet ihr euch ein,
daß ich mein ganzes Leben lang im Irrtum gewesen bin?
Aber in ihm waren Gedanken erweckt worden, die er nicht will-
kürlich verbannen konnte. Allein in seinem Zimmer, dachte er über
die Worte seines Vetters nach. Ein Bewußtsein der Sünde bemäch-
tigte sich seiner; er sah sich ohne Mittler in der Gegenwart eines
heiligen und gerechten Richters. Die Fürsprache der Heiligen, gute
Werke, die Zeremonien der Kirche, sie alle waren machtlos, für die
Sünde Genugtuung zu leisten. Calvin sah nichts vor sich als das
Dunkel ewiger Verzweiflung. Vergebens bemühten sich die Gelehr-
ten der Kirche, seiner Angst abzuhelfen, vergebens nahm er seine
Zuflucht zu Beichte und Bußübungen: seine Seele konnten sie nicht
mit Gott versöhnen.
Während Calvin noch diese vergeblichen Kämpfe durchlebte,
kam er eines Tages wie von ungefähr an einem der öffentlichen
Plätze vorbei und wurde dort Augenzeuge der Verbrennung eines
Ketzers. Er war betroffen über den Ausdruck des Friedens, der auf
dem Angesicht des Märtyrers ruhte. Unter den Qualen jenes furcht-
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Wylie, 13.Buch, Kapitel 7